Leseprobe aus: Eowyn Ivey, Das Schnee­mädchen

Buchcover Eowyn Ivey, Das Schnee­mädchen. Roman. Aus dem amerika­nischen Englisch über­setzt von Margarete Längs­feld, Claudia Arling­haus und Martina Tichy. 464 Seiten. Reinbek: Kindler, 2012.

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KAPITEL 13

...

Als Jack am nächsten Tag im Hof allein war, kam die Kleine still herbei, setzte sich auf einen Baum­stumpf und schaute ihm bei der Arbeit zu. Ein paar Mal öff­nete sie den Mund, als wolle sie etwas sagen, schwieg dann aber.
Jack war über­zeugt, dass mehr als ein­fache Neu­gier­de oder Hunger sie zu ihren Besuchen ver­an­lasste. Ihm schien etwas wie Kummer oder Er­schöpfung dahinter­zu­stecken; die Haut unter ihren Augen schimmer­te dunkel und ver­letz­lich.
Mabel bohrte während des Abend­essens immer wieder bei dem Mäd­chen nach und flocht Fragen ein, die un­beant­wor­tet blie­ben; Jack hin­gegen wartete ab und be­obach­te­te sie nur. Irgend­wann wür­de sie schon mit der Sprache heraus­rücken, und bis dahin woll­te er sich ein­fach freuen, dass sie da war. Nur ganz sel­ten kam sie bis in die Block­hütte, und immer weiger­te sie sich, über Nacht zu blei­ben. Doch sie brach­te kleine Ge­schenke mit: das weiße Hermelin­fell, das Körb­chen voller Beeren, eine Äsche, fertig aus­ge­nommen für die Pfanne. Jack be­griff, dass der er­würg­te Schnee­schuh­hase vor der Tür eben­falls eines ihrer Ge­schenke ge­we­sen war. Nun tat es ihm leid, dass er ihn in den Wald ge­wor­fen hatte.

* * *

Dann kam der Tag, da sie an­stelle von Ge­schen­ken die Fragen mit­brach­te, die Jack in ihren Augen ge­lesen hatte. Sie er­schien zeitig am Morgen, er hatte ge­rade ge­früh­stückt und war in das dämm­rige Licht hinaus­ge­treten. Wie ein Schat­ten folg­te sie ihm über den Hof und durch den Stall.
Als er die Stall­tür schloss, um­klammer­ten ihre kleinen kühlen Hände sein Hand­gelenk. Sie zog an seinem Arm, bis er sich hinab­beugte.
Versprichst du mir was?
Mit leiser ängstlicher Stimme.
Und noch bevor er sich über die Be­deu­tung seines Ver­sprechens im Klaren war, folg­te er ihr be­reits durch den Schnee. Das Mäd­chen lief wie auf­ge­schreckt, wie ge­hetzt, wurde je­doch lang­samer, als Jack nicht mit­hielt. Sie führ­te ihn in Rich­tung der Ber­ge, die Hänge em­por.
Er folgte, so gut es ging, ein keuchen­der, fuß­lahmer Toll­patsch. Ihr Schritt hin­gegen war un­glaub­lich leicht und sicher. Der Weg er­schien ihm viel wei­ter als da­mals, da er ihr bei Nacht durch den Wald nach­ge­jagt war. Er spür­te ihre Un­geduld. Sie ver­harrte nur so lan­ge, bis er auf­ge­holt hat­te, um so­gleich wie­der davon­zu­spurten, bevor er auch nur Atem schöp­fen konnte. Bald schon achte­te er nicht mehr auf den Weg — er merk­te nur, dass es berg­auf ging. Von dem lan­gen, müh­samen Auf­stieg zogen sich seine Waden­muskeln zu­sammen, seine Lun­ge brann­te. Der gleich­mäßig graue Him­mel laste­te auf seinen Schul­tern. Er fühl­te sich kraft­los und schwer. Bei jedem Kamm, den sie er­reich­ten, dach­te er: Wir sind da. End­lich sind wir da. Doch schon ging es wei­ter, zum nächs­ten Kamm, und wie­der wei­ter. Er schlepp­te sich durch den tie­fer wer­den­den Schnee, wäh­rend das Mäd­chen gerade­zu dar­über hin­weg­schweb­te.
Geht es dir nicht gut?
Sie stand direkt über ihm.
Wir sind fast da, sagte sie.
Doch, sagte er. Es geht mir gut. Geh du nur vor.
Er versuchte ein Lächeln und merk­te, dass es ihm zur Gri­masse ge­riet.
Ich bin zwar nicht mehr der Jüng­ste, aber ich schaffe es schon.
Die Kleine bemühte sich sicht­lich, lang­samer zu gehen; sie zeig­te ihm, wohin er die Füße setzen soll­te und wo er einen Ast grei­fen konn­te, um sich einen Vor­sprung hinauf­zu­ziehen.
Dann erblickte er Fels­klippen und hör­te unter einer Eis­decke Wasser rieseln. Er folg­te dem Mäd­chen die Schlucht em­por. Bald waren sie von ho­hen Fich­ten um­geben, die hier oben völ­lig fehl am Platze wirk­ten. Ihre aus­laden­den Äste und ge­wal­ti­gen Stäm­me ver­wan­del­ten das enge Tal in einen ge­schütz­ten Raum. Hier lief die Kleine all­mäh­lich lang­samer, ohne sich nach ihm um­zu­blicken. Ihr Schritt wur­de zöger­licher, bis sie schließ­lich inne­hielt und auf einen ver­schnei­ten Hau­fen unter einem Baum deu­te­te.
Was ist das?
Die Kleine antwortete nicht. Sie wies nur wei­ter darauf, und so trat Jack an den nie­dri­gen Hügel heran. Er wisch­te den Schnee zur Seite und ent­deck­te eine Zelt­lein­wand. Wieder sah er zu dem Mäd­chen hin, doch sie wandte sich ab.

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