Jill Ker Conway, Auszug aus Coorain: Erinnerungen an Kindheit und Jugend in Australien.
Unveröffentlicht. © der deutschen Übersetzung 2000–2024: Claudia Arlinghaus.
Titel der Originalausgabe:
The Road from Coorain: In the tradition of My Brilliant Career. A woman's exquisitely clear-sighted memoir of growing up Australian.
New York: Knopf, 1989. © 1989 by Jill Conway
zur → Buchinfo
Grassteppe überzieht die Ebenen im Westen von New South Wales. Gewaltig erstreckt sie sich über Hunderte von Meilen, bis hinter den Lachlan und den Murrumbidgee River, bis schließlich die Wüste sie ablöst und ins Innere rauscht, dem toten Herzen des Kontinents entgegen. Wer hier in einem guten Jahr den Blick auf den Boden richtet, entdeckt einen Webteppich zarten Lebens — zwar nicht in dem verschwenderischen Muster eines mittelalterlichen Stundenbuchs, aber doch das mit sparsamen Mitteln entworfene Werk eines modernen Künstlers. Was hier wächst, klammert sich mit weitläufigem Wurzelwerk fest an den Boden; darüber führt die Pflanze ihr ebenso zartes wie unbeirrtes Dasein. Auf jeden Regenguss folgt eine Explosion neuen Lebens. Würziges Gras richtet feine grüne Speere auf. Wildes Getreide schiebt sich empor, und seine Saat reift zu Ähren von gebleichtem Gold. Purpurne Augenwicken durchziehen das Grün und Gold, und die sonnengelben Blüten der Trommelschlegel überziehen ganze Morgen von Land wie andernorts Felder von Senfpflanzen. Der Erde am nächsten ist der Schneckenklee, der sich im Frühjahr mit winzigen mandelgrünen Blättchen und leuchtenden Blüten über das Erdreich breitet. Im Herbst lässt er eine Tracht samengefüllter Kletten folgen, in denen die Kraft der Sonne als konzentriertes Protein gespeichert ist. Wo der Mutterboden ausgewaschen ist, zeichnen pink und violett blühende Sukkulenten — Farbspritzern gleich — in konzentrischen Ringen die Ränder von Tonmulden nach.
Wo immer eine kaum wahrnehmbare Vertiefung eine höhere Konzentration von Taufeuchte und zauderndem Regen zulässt, überragt Gesträuch die Bodendecker. Hier wächst der allgegenwärtige stachlige Steppenroller, der sein Leben kräftig giftgrün beginnt, nur um von Sonne und Frost zu blassem Weißgelb verbrannt zu werden. Allmählich wird sein Wurzelhals geschwächt, bis der Wind ihn schließlich an einem auffrischenden Tag lospflückt und langsam und majestätisch umherrollt, wie die wirbelnden Sonnen in den Gemälden van Goghs. Auf kalkhaltigem Boden stehen kräftigere, oberschenkel- bis hüfthohe Büsche; sie tragen das schmale Blattwerk des Trockenklimas, blaugrün und graubestäubt von Farbe und perfekt daran angepasst, der dörrenden Sonne zu widerstehen. Wo sich auf weniger durchlässigem Boden bisweilen eine Pfütze hält, ist die einjährige Salzmelde anzutreffen, eine wunderliche silbergraue Pflanze, die in kleinen Blattballons Wasser speichert und auch dann noch gedeiht, wenn die Regenfälle schon lange ausgeblieben sind. Ihr aus härterem Holz geschnitzter mehrjähriger Cousin ähnelt dem amerikanischen Wüsten-Beifuß; er stützt sich auf feste Zweige und trotzt selbst dem Sturm.
Sehr selten — nur dort, wo sich ein unterirdischer Wasserlauf der Oberfläche nähert — drängen sich einige Eukalyptusbäume zusammen. Wind und Wassermangel verleihen diesen ein zerschlissenes, knorriges Aussehen; dramatisch erheben sie sich über den Horizont, eine Synode heimischer Gottheiten. Hitze und Luftspiegelungen lassen sie gleichsam vom Boden abheben, sodass sie von fern an Surfer erinnern, die auf einer endlosen silberglänzenden Woge über die Ebene gleiten. Der Ozean, über den sie dahinziehen, leuchtet im strahlenden Sonnenlicht graublau, silbrig, grün, gelb, scharlachrot und blassgolden — eine abwechslungsreiche Palette von Glanzlichtern auf den roten Nuancen des Tons, die an grauen Tagen der zurückhaltenden Farbmischung einer ruhigen See weicht.
Die Geschöpfe dieses Landstrichs tragen die Farben ihrer Heimat in ihrem Gefieder, in ihrem Pelz, ihrem Schuppenkleid. Zu den größten Bewohnern zählen die Emus, mannshohe flugunfähige Vögel mit graubraunen Federn und winzigen Flügeln. Sie sind stille Wesen, wie auch die Kängurus, die von sechzig Zentimetern bis nahezu zweieinhalb Metern messen, in Farben von zartem Taubengrau bis hin zu sattem Rotbraun. All diese Wesen verschmelzen so gut mit ihrer heimischen Umgebung, dass man die vertrauten Umrisse bisweilen erst dann ausmacht, wenn man direkt vor ihnen steht. Das Fell der Wildhunde ist von dem allgegenwärtigen Ockergelb ausgedörrten Tons, und die Reptilien — Schlangen und Warane — wirken wie Schatten auf der Erde. Sie alle bewegen sich behutsam durch den empfindlichen Lebensraum, auf gepolsterten Pfoten und mit Krallen, die die Graswurzeln intakt lassen.
Die Ebene stößt in einer derart scharf gezogenen schwarzen Linie gegen den Himmel, dass man glauben möchte, ihr Schöpfer habe mehr Interesse an Geometrie gehegt denn an alttestamentarischen Hügeln und Tälern. Menschliches Unterfangen verliert vor einem so leeren Horizont jede Bedeutung. Auf einer Insel im Ozean lässt uns der Anblick des fernen Horizonts Geborgenheit empfinden. Auf der Steppe aber bleibt er unerbittlich, vor ihm gibt es dort kein Entrinnen. Seine Leere begleitet uns auf Schritt und Tritt, in jeder Himmelsrichtung sind wir mit ihm konfrontiert. Da das karge Land kaum Orientierungspunkte bietet, kriechen wir insektengleich darauf einher, eine winzige, einsame Existenz zwischen der leeren Welt und dem sich darüber wölbenden Himmel. Maßstäbe verschieben sich in dieser äußerst flachen Landschaft auf seltsame Weise. Ein scharlachroter Sonnenuntergang lässt graugelbe Grasbülten wie Bäume emporragen. Kilometerhoch aufgetürmte Gewitterwolken bilden die Kulisse für einen einzelnen verkrüppelten Baum. Ein Reiter am Horizont scheint urplötzlich direkt den Wolken entstiegen. Während sich die Erde in kleinteiligem Muster präsentiert, wie ein kompliziert gestickter Gobelin, wartet der Himmel mit purem Drama auf. Kumuluswolken häufen sich im Zentrum gigantischer kontinentaler Abschnitte, und der Wind treibt sie in gewaltigem Tempo den Horizont entlang oder über die Köpfe der Betrachter hinweg. Der allgegenwärtige rote Staub der Trockenlandschaft schwebt in der Luft und bringt im Wechsel die gesamte Farbskala von Gelb über Orange und Rot bis Purpur hervor, während die Wolken das Licht beugen und fächern. Den Mangel an Singvögeln in diesem Teil des Buschlands machen die dramatischen Sonnenauf– und –untergänge wett. Am Morgen gehen dem barocken Hervorbrechen der Sonne prachtvolle goldene Strahlen voraus. Bei Sonnenuntergang erinnern die Schattierungen der Haufenwolken an ein Seestück von Turner, bis die Sonne hinter die Erde taucht und nicht Abendrot hinterlässt, sondern Feuerzungen am Horizont.
© der englischen Originalausgabe Jill Ker Conway 1989
© der deutschen Übersetzung Claudia Arlinghaus 2000–2021
zur → Buchinfo