Thierry Crouzet, Die rettende Geste. Biografie.
Paris: L'Âge d'Homme, 2014.
Daraus: Seite 12–14.
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Mitte März 2012 erreichte mich überraschend ein Telefonanruf aus Genf: „Ich habe einen ganz außergewöhnlichen Arzt kennengelernt!“, verkündete meine Freundin Geneviève begeistert. Ihre sonst eher dunkle Stimme überschlug sich fast vor Aufregung. „Es ist wirklich unglaublich, du musst unbedingt ein Buch über ihn schreiben. Die Queen hat ihm einen hohen Verdienstorden verliehen, aber niemand kennt ihn, nicht einmal hier in der Schweiz. Er ist sogar für den Friedensnobelpreis nominiert – ein Medizinprofessor, und er rettet jedes Jahr Millionen Menschenleben!“
Schon einen Monat später saß ich Didier Pittet gegenüber, einem sportlichen Mann in den Fünfzigern, Typ Indiana Jones. In seinen bernsteinfarbenen Augen leuchtete noch die Sonne Afghanistans, denn in diesem Land hatte er die letzten zehn Tage verbracht: Im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte er dort Krankenhäuser besucht. Pittet sollte mir eigentlich etwas über seine Arbeit erzählen, doch er war noch gar nicht richtig angekommen. Innerlich befand er sich noch in Zentralasien, spürte das gleißende Licht jener Landschaft. Bald eindringlich, dann wieder voller Heiterkeit erzählte er von seiner Reise.
In Jeans und Wanderschuhen, den Rucksack geschultert, einen gewaltigen Rollkoffer hinter sich, marschiert Didier durch ein enges Betonlabyrinth, neben sich seinen Freund Kurt-Wilhelm Stahl. Dieser Arzt und Biochemiker im Ruhestand verwendet seine ganze Energie auf die Bekämpfung einer in Afghanistan häufig auftretenden chronisch infizierten Wunde, der Haut-Leishmaniose. Die Sonne steht fast im Zenit, auf dem Flughafen Masar-e Scharif unweit der usbekischen Grenze herrscht Gluthitze, als Didier und Kurt Gate 1, die Ankunftshalle des ISAF-Camps Marmal, verlassen. Zwischen zwei vier Meter hoch aufragenden, von NATO-Draht gekrönten Mauern machen sie sich auf den Weg. Über ihnen schwebt ein mit Radargeräten gespickter Fesselballon; Flugzeuge und Hubschrauber kreuzen den schmalen Streifen Himmel, der zwischen den Mauern sichtbar ist. Hin und wieder löst ein Stück Gitterzaun den grauen Beton ab und gestattet einen flüchtigen Blick auf das drei Kilometer entfernte Gate 2. Schwer wiegen die Rucksäcke und der Koffer, noch schwerer aber ruhen die Blicke der Soldaten in den Wachtürmen auf den beiden. Doch wer wollte sich beklagen: Afghanistan befindet sich seit dreißig Jahren im Kriegszustand.
Didier denkt an seine Kinder, an seine Familie. Wieder einmal hat er sie allein gelassen und verbringt seinen Urlaub damit, im Dienst seiner ehrenamtlichen Tätigkeit auf Reisen zu gehen. „Du wirst Ostern also nicht bei uns sein“, hat sich seine Frau Séverine beschwert. Die Afghanen bräuchten Hilfe, hat er geantwortet. Auch wenn ihn die ständige Abwesenheit seine erste Ehe gekostet hat: Ein schlechtes Gewissen verspürt er nicht.
Am Vortag hatte der Transporter der Bundeswehr auf dem Lufttransportstützpunkt Termez in Usbekistan einen nächtlichen Zwischenstopp eingelegt. Dort hatte Didier plötzlich vor einem Plakat der WHO gestanden: klare Strichzeichnungen, wie ein Comicstrip in Schwarz-Weiß. Zwei Hände in reibender Bewegung, Finger, die sich kreuzen und ineinandergreifen. Die Grafiker der NATO haben das offizielle Logo durch ihr eigenes ersetzt, als wollten sie zeigen, dass man sich die Botschaft zueigen gemacht hat: „Saubere Hände retten Leben.“
Allmählich fasst der Gedanke auf der ganzen Welt Fuß. Für die Wirksamkeit dieser einfachen Maßnahme – eigentlich eine Binsenweisheit – hat Didier den wissenschaftlichen Nachweis erbracht. Nun muss er aufklären, unterweisen, überzeugen.
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