Jean-Michel Groult, Verbotene Pflanzen: Psychoaktiv bis invasiv.
Stuttgart: Ulmer, 2011. Übersetzung aus dem Französischen.
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Kapitel 4: Un monsieur qui n’était pas invité
Plötzlich erschien mir eine geheimnisvolle Gestalt. Wie war sie hereingekommen? Ich wüsste es nicht zu sagen und war doch nicht im Geringsten beängstigt. Ihre Nase war krumm wie ein Vogelschnabel, und sie hatte dreifach schattenumringte grüne Augen, die sie unablässig mit einem riesigen Schnupftuch betupfte. Eine hohe weiße gestärkte Binde schnürte ihr den dürren Hals derart ab, dass die Wangenhaut in rötlichen Falten darüberhing; darein war eine Visitenkarte geknotet, auf der geschrieben stand: „Daucus Carota vom Goldnen Topf“. Die kapaunhaft gewölbte Brust umspannte ein mit Trauben von Schmuckanhängern beschwerter Stutzfrack.
Was die Beine anbelangt, so muss ich gestehen, dass sie wie eine Alraunwurzel anmuteten — gegabelt, schwarz, runzlig, voller Knoten und Warzen schien diese frisch dem Boden entrissen, denn es hafteten noch Erdreste an den Fasern. Diese Beine zuckten und wanden sich mit außerordentlichem Eifer, und als der kleine Rumpf, den sie trugen, sich mir genau gegenüber befand, schluchzte das sonderbare Wesen laut auf und sprach zu mir mit der wehleidigsten Stimme, während es nach Kräften seine Augen trocknete:
„Der Tag ist gekommen, da wir vor Lachen sterben müssen!“ Und erbsgroße Tränen kullerten ihm auf die Nasenflügel. „Sterben müssen … sterben müssen …“ näselten misstönende Stimmen echogleich im Chor. [ …]
Welch bizarr verzerrte Fratzen! Welch hinter ihren Nickhäuten blinkende, sarkastisch glitzernde Augen! Welch grinsende Schlitzmünder! Welch grob geschnittene Mäuler! Welch possenhafte Spitznasen! Welch von grobianistischen Narreteien pralle Wänster! Welch faszinierend launichte Gestalten, die flüchtig im arglosen Albgewimmel aufschienen — Karikaturen, wie sie den Neid von Daumier und Gavami erweckt hätten — Erscheinungen, wie sie die fabelhaften chinesischen, dem Phidias ebenbürtigen Schöpfer porzellanener Magots vor Entzücken hätten vergehen lassen!
Doch nicht alle Gesichte waren monströs oder grotesk — auch Anmut trat in diesem aberwitzigen Reigen in Erscheinung: Neben dem Kamin wiegte sich ein pfirsichwangiges Köpfchen in blondem Schopfe und entblößte in einem nicht enden wollenden Anfall von Heiterkeit zweiunddreißig reiskorngroße Zähnchen, wobei es ein silberhell tönendes, vibrierendes, mit Trillern und Fermaten durchsetztes anhaltendes Gelächter erklingen ließ, das mir so durchs Trommelfell drang, dass meine gänzlich mesmerisierten Nerven mich zu allerlei törichten Handlungen zwangen.
Die heitere Raserei war zum Höhepunkt gelangt; man hörte nur noch schluchzende Seufzer und lallendes Glucksen. Das Lachen wandelte sich zu dumpfem Grummeln, auf Wollust folgte der Krampf — der Kehrreim des Daucus Carota wollte sich bewahrheiten. Schon waren mehrere ermattete Haschischesser mit jener sanften Schwere zu Boden gerollt, welche den Sturz im Rausch so ungefährlich macht. Es überkreuzten, vermischten, überdeckten sich Ausrufe wie „Mein Gott, was bin ich glücklich! Welch Wonne — ich schwebe in Ekstase! Ich schaue das Paradies! Ich tauche ein in die tiefste Glückseligkeit!“
Heisere Schreie entrissen sich beklemmten Busen — Arme streckten sich sehnend nach schwindenden Schemen — Fersen und Nacken pochten auf die Dielen.
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