Eowyn Ivey, Das Schneemädchen. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Margarete Längsfeld, Claudia Arlinghaus und Martina Tichy. 464 Seiten. Reinbek: Kindler, 2012.
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Als Jack am nächsten Tag im Hof allein war, kam die Kleine still herbei, setzte sich auf einen Baumstumpf und schaute ihm bei der Arbeit zu. Ein paar Mal öffnete sie den Mund, als wolle sie etwas sagen, schwieg dann aber.
Jack war überzeugt, dass mehr als einfache Neugierde oder Hunger sie zu ihren Besuchen veranlasste. Ihm schien etwas wie Kummer oder Erschöpfung dahinterzustecken; die Haut unter ihren Augen schimmerte dunkel und verletzlich.
Mabel bohrte während des Abendessens immer wieder bei dem Mädchen nach und flocht Fragen ein, die unbeantwortet blieben; Jack hingegen wartete ab und beobachtete sie nur. Irgendwann würde sie schon mit der Sprache herausrücken, und bis dahin wollte er sich einfach freuen, dass sie da war. Nur ganz selten kam sie bis in die Blockhütte, und immer weigerte sie sich, über Nacht zu bleiben. Doch sie brachte kleine Geschenke mit: das weiße Hermelinfell, das Körbchen voller Beeren, eine Äsche, fertig ausgenommen für die Pfanne. Jack begriff, dass der erwürgte Schneeschuhhase vor der Tür ebenfalls eines ihrer Geschenke gewesen war. Nun tat es ihm leid, dass er ihn in den Wald geworfen hatte.
* * *
Dann kam der Tag, da sie anstelle von Geschenken die Fragen mitbrachte, die Jack in ihren Augen gelesen hatte. Sie erschien zeitig am Morgen, er hatte gerade gefrühstückt und war in das dämmrige Licht hinausgetreten. Wie ein Schatten folgte sie ihm über den Hof und durch den Stall.
Als er die Stalltür schloss, umklammerten ihre kleinen kühlen Hände sein Handgelenk. Sie zog an seinem Arm, bis er sich hinabbeugte.
Versprichst du mir was?
Mit leiser ängstlicher Stimme.
Und noch bevor er sich über die Bedeutung seines Versprechens im Klaren war, folgte er ihr bereits durch den Schnee. Das Mädchen lief wie aufgeschreckt, wie gehetzt, wurde jedoch langsamer, als Jack nicht mithielt. Sie führte ihn in Richtung der Berge, die Hänge empor.
Er folgte, so gut es ging, ein keuchender, fußlahmer Tollpatsch. Ihr Schritt hingegen war unglaublich leicht und sicher. Der Weg erschien ihm viel weiter als damals, da er ihr bei Nacht durch den Wald nachgejagt war. Er spürte ihre Ungeduld. Sie verharrte nur so lange, bis er aufgeholt hatte, um sogleich wieder davonzuspurten, bevor er auch nur Atem schöpfen konnte. Bald schon achtete er nicht mehr auf den Weg — er merkte nur, dass es bergauf ging. Von dem langen, mühsamen Aufstieg zogen sich seine Wadenmuskeln zusammen, seine Lunge brannte. Der gleichmäßig graue Himmel lastete auf seinen Schultern. Er fühlte sich kraftlos und schwer. Bei jedem Kamm, den sie erreichten, dachte er: Wir sind da. Endlich sind wir da. Doch schon ging es weiter, zum nächsten Kamm, und wieder weiter. Er schleppte sich durch den tiefer werdenden Schnee, während das Mädchen geradezu darüber hinwegschwebte.
Geht es dir nicht gut?
Sie stand direkt über ihm.
Wir sind fast da, sagte sie.
Doch, sagte er. Es geht mir gut. Geh du nur vor.
Er versuchte ein Lächeln und merkte, dass es ihm zur Grimasse geriet.
Ich bin zwar nicht mehr der Jüngste, aber ich schaffe es schon.
Die Kleine bemühte sich sichtlich, langsamer zu gehen; sie zeigte ihm, wohin er die Füße setzen sollte und wo er einen Ast greifen konnte, um sich einen Vorsprung hinaufzuziehen.
Dann erblickte er Felsklippen und hörte unter einer Eisdecke Wasser rieseln. Er folgte dem Mädchen die Schlucht empor. Bald waren sie von hohen Fichten umgeben, die hier oben völlig fehl am Platze wirkten. Ihre ausladenden Äste und gewaltigen Stämme verwandelten das enge Tal in einen geschützten Raum. Hier lief die Kleine allmählich langsamer, ohne sich nach ihm umzublicken. Ihr Schritt wurde zögerlicher, bis sie schließlich innehielt und auf einen verschneiten Haufen unter einem Baum deutete.
Was ist das?
Die Kleine antwortete nicht. Sie wies nur weiter darauf, und so trat Jack an den niedrigen Hügel heran. Er wischte den Schnee zur Seite und entdeckte eine Zeltleinwand. Wieder sah er zu dem Mädchen hin, doch sie wandte sich ab.
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